Robin Hood: Kapitel 1

Wie sich Prinz John die Zukunft weissagen ließ

Es war ein besonders schöner Frühlingsmor­gen. Nachts hatte es geregnet, aber jetzt war der Himmel hell und klar. Robin Hood trö­delte mit seinem Freund Little John durch den Wald von Sherwood, und die beiden sprachen so über dies und das.

Auch Prinz John war an diesem Morgen schon unterwegs. Er fuhr von Dorf zu Dorf und trieb die Steuergelder ein. Der Prinz liebte diese Beschäftigung so sehr, dass er ei­gens die goldene Staatskarosse mit den Samtvorhängen dafür benutzte, die von zwei Elefanten gezogen wurde. Nicht, dass zwei Elefanten nötig gewesen wären, aber sie machten natürlich einen viel großartigeren Eindruck als gewöhnliche Pferde. Außerdem trompeteten die Dickhäuter so laut, dass die Leute, die des Wegs kamen, schon ehr­furchtsvoll in den Straßengraben sprangen, wenn sie das Getöse auch nur aus der Ferne hörten. Der Hauptmann der Garde, ein Kro­kodil, marschierte an der Spitze des königli­chen Zuges und trug die Fahne. Ihm folgten vier dicke Nashörner, die Prinz Johns Schatz­truhe schleppten.

Robin Hood und Little John beobachteten vorsichtig aus dem Dickicht, was sich da vorne auf der Straße abspielte.

»Scheint so, als ob Johnny heute wieder die letzten Pennies aus den armen Leuten herausquetschen will«, sagte Robin Hood und blickte finster auf die goldene Kutsche.

»Hm, sieht so aus«, brummte Little John.

»Was für ein glücklicher Zufall, dass wir gerade da sind!«

»Glücklicher Zufall?« Little John machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn du daran den­ken solltest, Prinz John um seine Moneten zu erleichtern und sie an die Armen zu verteilen, dann schlag dir das nur aus dem Kopf. Das kannst du vielleicht mit gewöhnlichen Steuereinnehmern machen! Aber Königliche Hoheiten zu beklauen, ist was ganz ande­res!«

»Klauen? – Was für ein hässliches Wort!« Robin Hood blickte scheinheilig zu seinem Freund empor. In seinen Mundwinkeln zuckte es jedoch und seine Fuchsaugen fun­kelten.

»Wir klauen niemals!« sagte er würdevoll. »Wir borgen uns manchmal etwas – und zwar nur von Leuten, die es sich leisten können.«

»Wenn das borgen ist, haben wir aber ‘ne Menge Schulden«, grinste Little John. »Wie willst du außerdem an Johnnys Pinkepinke rankommen? Sieh bloß die Elefanten und Nashörner und …«

»Wir müssen mit List und Tücke vorge­hen«, überlegte Robin.

»Ich höre immer List und Tücke! Wir wer­ den unsere Hälse in die Schlinge des Henkers stecken!« warnte der Bär. »Am besten, wir vergessen einfach, dass wir die Kutsche gese­hen haben.«

» Waas?« Robin Hood tat furchtbar ent­täuscht. »Wir wollen wirklich versäumen, Seiner Hoheit eine kleine Vorstellung unse­rer Kunst zu geben? Das ist nicht dein Ernst, mein Junge! – Weißt du noch, wo du unsere Zigeuner-Kostüme gelassen hast?«

»Ich hol sie!« antwortete der Bär. »Aber wir machen bestimmt einen großen Fehler!«

Die Staatskarosse rumpelte heran. Die Vorhänge waren herabgelassen, sodass die beiden Freunde den Prinzen nicht sehen konnten. Sie hätten sonst nämlich bemerkt, dass er nicht allein reiste. Sein Diener und Ratgeber, Sir Hiss, war mit im Wagen.

Sir Hiss war eine Schlange, die sich durch große Klugheit und Verschlagenheit aus­ zeichnete.

An diesem Morgen war Sir Hiss jedoch ängstlich und nervös. Er blickte unruhig auf seinen Herrn, der einen Beutel mit Goldstücken in der Hand hielt und damit herum­spielte.

»Steuern! Steuern!« flüsterte Prinz John. »Liebliche, klimpernde, klirrende Steuer­groschen!«

»Hoheit, ich wünschte, Ihr wäret vorsichti­ger«, zischte die Schlange.» Wir sind im Wald von Sherwood, und hier wimmelt es be­kanntlich von Räubern. Ich erzählte Euch doch, dass Robin Hood … «

»Sei nicht albern, Hiss!« lachte der Prinz. »Kein Räuber, auch Robin Hood nicht, würde es wagen, die königliche Kutsche an­ zugreifen! – Aber wenn wir schon im Wald von Sherwood sind, ist es nicht mehr weit nach Nottingham. – Hach, wie ich mich auf Nottingham freue. Eine der reichsten Städte Englands!«

Sir Hiss lächelte. »Bei Eurem Talent, Ho­heit, Vermögens-, Erbschafts-, Mehrwert-, Salz-, Gardinen- und sonstige Steuern zu er­finden, wird Nottingham bald eine der reich­sten Städte gewesen sein!«

Der Prinz gluckste geschmeichelt und krempelte die Ärmel seines Samtmantels auf. (Sie waren viel zu lang und verhedderten sich ständig, weil der Mantel eigentlich Johns Bruder, König Richard, gehörte.)
Sir Hiss wickelte sich mehrmals um sich selbst und blickte mit eiskalten Augen auf seinen Gebieter.

»Die Krone, Hoheit«, ermahnte er. »Wenn ich mir erlauben dürfte … «

Prinz John nahm einen Handspiegel und betrachtete sich darin. Nicht nur der Mantel, auch die Krone war ihm viel zu groß. Sie rutschte auf einer Seite dauernd über das Ohr. Schnell rückte er sie wieder gerade.

»Jetzt sitzt sie toll, Hoheit«, lobte Sir Hiss verlogen. »Ihr seht edel, herrschaftlich und wahrhaft königlich aus!«
Prinz John grinste blöd und eitel auf sein Spiegelbild. »Wirklich? Findest du?« fragte er, um noch mehr Schmeicheleien von der Schlange zu hören.

»Ehrlich! Die Krone sitzt auf Eurem edlen und erlauchten Haupt genauso gut wie auf König Richards.«
Wütend ließ der Prinz den Spiegel fallen, packte die Schlange hinter dem Kopf und schüttelte sie hin und her.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du den Namen meines Bruders nicht erwähnen sollst?« schrie er.
»’schuldigung, Hoheit!« keuchte Sir Hiss.

»Daran ist meine gespaltene Zunge schuld. Die sagt manchmal Sachen, ohne dass ich’s will.«

»Dann halte sie gefälligst im Zaum!«

»Schlangen tragen keine Zäume!« ant­wortete Hiss patzig (aber ganz leise) und schaukelte seinen Kopf hin und her, um nachzuprüfen, ob der Prinz ihn nicht zer­quetscht hatte. Dann fuhr er giftig zischend fort: »Eure Hoheit sollten mich besser be­handeln. Wir sind schließlich Komplizen!«

»Komplizen?« Prinz John bekam fast ei­nen Koller. »Wie kannst du es wagen, von Komplizen zu sprechen!«

»Wenn Euch dieses Wort missfällt, können wir leicht ein anderes finden!« sagte die Schlange. »Immerhin war es Eure Idee, dass ich König Richard hypnotisieren und auf einen Kreuzzug ins Heilige Land schicken sollte, damit Ihr als sein Stellvertreter in England regieren könnt … «

»Ja, und ich bin ein großer Regent!« kreischte der Prinz. »Viel besser als mein verd … , als mein Bruder!«

»Da ist die Königinmutter aber ganz an­ derer Meinung.«

»Mutter!« Der letzte Rest von Prinz Johns guter Laune war zum Teufel. Er vergaß Samtmantel und Krone und ähnelte plötzlich mehr einem ängstlichen Hühnerküken als ei­nem brüllenden Löwen.

»Mutter hat Richard immer vorgezogen!« jammerte er und begann, am Daumen zu nuckeln.

Das tat er immer, wenn man die Königin­mutter auch nur erwähnte. Sir Hiss fand es einfach grässlich, der Ratgeber und Diener eines Daumenlutschers zu sein.

Bitte, Königliche Hoheit, hört mit dem Genuckel auf!«

Prinz John nahm den Daumen aus dem Mund und starrte auf die Schlange.

Wenn ich heute noch ein einziges Zischen von dir höre, Hiss«, knurrte er, »schmeiß’ ich dich aus dem Wagen und du läufst zu Fuß nach Nottingham!«

Schlangen laufen nicht, sie gleiten!« Sir Hiss liebte es, das letzte Wort zu behalten. Aber dann verkroch er sich doch lieber vor­sichtig in sein Körbchen, das auf dem Boden der Kutsche stand.

Kaum hatte er sich zusammengeringelt, trompeteten die Elefanten, und der ganze Zug stoppte.

»Eh? Was ist denn los?« Prinz John zog die Vorhänge zur Seite.

Zwei Zigeunerfrauen standen am Weg­rand. Die eine war groß und dick, und die langen Haare fielen ihr schlampig über die breiten Schultern. Die andere war klein und adrett und trug ein hübsches rotes Kopftuch.

»Glücksbringer zu verkaufen!« grölte die Dicke mit tiefer Stimme. »Segenspendende Amulette! Wir verbiegen Ihnen alles, was nicht niet- und nagelfest ist … «

»Die Sterne lügen nicht!« schrie die Kleine. »Zwei begnadete Wahrsagerinnen sagen Ihnen die Zukunft voraus!«

»Oh, das ist lustig!« Der Prinz klatschte begeistert in die Hände. Sir Hiss reckte sei­nen Kopf aus dem Körbchen.

»Vorsicht, Ho­heit! Das sind vielleicht Banditen!«

»Ach Quatsch, Hiss!« schnitt ihm der Prinz das Wort ab. »Hast du schon mal weibliche Banditen gesehen?«

Huldvoll lehnte er sich aus dem Fenster der Kutsche zu den beiden Zigeunerinnen hinaus und sagte: »Ihr habt die Erlaubnis, meine königlichen Hände zu küssen!«

Die Frauen machten einen respektvollen Knicks.

»Wie freundlich und gütig Eure Majestät sind!« kreischte die Kleine und küsste und schmatzte auf den Händen des Prinzen herum. Schwuppdiwupp, schon war ein wert­ voller Diamantring verschwunden.

Sir Hiss versuchte, seinem Herrn etwas ins Ohr zu flüstern. »Hoheit, habt Ihr nicht gese­hen, wie … «

»Ach, lass das!« schnauzte der Prinz. »Du kitzelst mich!«

Unterdessen schleckte die dicke Zigeune­rin seine andere Hand ab und brach – knack, knack, knack! – drei kostbare Edelsteine aus ihren Goldfassungen.

»Aber, Hoheit, merkt Ihr denn nicht … « zischte Sir Hiss verzweifelt.

»Miese, misstrauische Natter!« Wütend packte der Prinz die Schlange und stieß sie ungeduldig in ihren Korb zurück. Energisch klappte er dann den Deckel zu und setzte sich obendrauf.

»Steig nur ein, meine Liebe!« Mit einer königlichen Geste forderte er die kleine Zi­geunerin auf, bei ihm in der Staatskarosse Platz zu nehmen.

Die Wahrsagerin ließ sich nicht lange bit­ten.

»Schließt Eure Augen, Hoheit!« sagte sie geheimnisvoll und machte es sich bequem. »Schließt Eure Augen und konzentriert Euch!«

Ahnungslos machte der Prinz die Augen zu.

»Aus den Nebeln der Zeit kommen die Geister!« leierte die Zigeunerin. »Eilt her­ bei, Geister der Zukunft!«

Draußen, vor der Kutsche, band Little John ein Goldfischglas an eine Angel. Im Glas waren Hunderte von Glühwürmchen, die Robin Hood und er einmal in einer dunk­len Nacht gesammelt hatten. Little John schleuderte das Goldfischglas durch die Samtvorhänge in die Kutsche. Drinnen war es dunkel, und die Glühwürmchen begannen zu flimmern und zu leuchten.

Prinz John blinzelte mit einem Auge. Er sah, dass die Wahrsagerin plötzlich – wie durch einen Zauber – eine geheimnisvoll er­ leuchtete Glaskugel in den Händen hielt und hineinstarrte.
»Abrakadabra«, murmelte sie unheim­lich.

Prinz John öffnete auch das andere Auge. In der Kugel schwirrten und blinkten kleine Dinger, die fast wie Glühwürmchen aussa­hen. Aber wie sollten Glühwürmchen schon in eine Glaskugel kommen? Es mussten wohl die Geister der Zukunft sein, die er da sah.

»Euer Name wird in die Geschichte einge­hen!« brummte die Zigeunerin.

»Hast du das gehört, Hiss?« lachte der Prinz und rückte auf dem Korb ein bisschen zur Seite. »Hör gut zu!«

»Abrakadabra, oodelally!« leierte die Wahrsagerin. »Nun schaut in meine Kugel, Hoheit!«

Wie ihm geheißen wurde, starrte der Prinz ins Goldfischglas.

»Ich sehe große Macht!« behauptete die Wahrsagerin.

Prinz John hingegen sah nur sein eigenes Spiegelbild. Aber er war entzückt, dass die Zigeunerfrau Macht sehen konnte.

»Ich sehe Majestätisches!« fuhr die Frau fort. »Schaut fest ins Kristall, Hoheit! Lasst Eure Augen nicht von der Kugel! Nun sehe ich einen Thron!«

Der Prinz stierte auf die Glühwürmchen und beachtete nicht, wie Hiss in seinem Körbchen vor sich hin fluchte.

»Los, weiter!« drängte er. »Wer sitzt auf dem Thron?«

»Ein Löwe!« antwortete die Wahrsage­rin

»Ja, ja, natürlich!« Der Prinz konnte sich vor Ungeduld kaum halten. »Die ganze kö­nigliche Familie besteht aus Löwen! – Bin ich’s, der auf dem Thron sitzt?«

»Wartet!« murmelte die Zigeunerin. »Das Bild wird deutlicher. Schließt Eure Augen und öffnet sie erst, wenn ich es Euch er­laube!«

Prinz John tat, was die Wahrsagerin ver­langte. Er hörte ein Rascheln und ein leises Klicken, und dann spürte er einen Hauch eiskalter Luft, als wenn jemand die Vorhänge der Kutsche geöffnet hätte.

»Fertig?« fragte er. Keine Antwort!

Er öffnete die Augen. Die Zigeunerin war weg … und der Beutel mit den Goldstücken auch. Nur noch er selbst war da, ausgeplün­dert bis auf die königliche Unterwäsche. Und natürlich das Körbchen mit Sir Hiss, das hat­ ten die Wahrsagerinnen auch dagelassen.

»Hiiiiss!« kreischte der Prinz. »Man hat mich überfallen!« Er sprang auf und schaute aus dem Fenster. Gerade sah er noch, wie sich die kleine Zigeunerfrau mit seinem Geld­beutel und dem Samtmantel aus dem Staub machte.

Und das dicke Zigeunerweib – es war nicht zu glauben! – hatte ein Loch in den Boden der Schatztruhe gebohrt und die Goldstücke in ihr Mieder fallen lassen. Die idiotischen Nashörner dösten und merkten überhaupt nichts. Schon verduftete die Dicke mit allen Steuer­geldern.

»Hiiilfe!« schrie der Prinz. »Ihnen nach, ihr Dummköpfe!«

Plötzlich kam Leben in die Dickhäuter. Die Nashörner donnerten, Gebüsch und Un­terholz niederwalzend, ziellos in den Wald. Die Elefanten drängten vorwärts, und die Staatskarosse begann zu rollen. Es gab einen scheußlichen Ruck, und erst brach ein Rad ab und dann flog auch noch ein zweites durch die Gegend. Prinz John und sein leidgeprüfter Ratgeber samt Körbchen segelten in hohem Bogen durch die Vorhänge in den Straßen­schlamm. Die Kutsche war bereits hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden, als die beiden wieder zu sich kamen, und von Ele­fanten, Nashörnern und dem Krokodil sah man keine Spur mehr.

»Ausgeraubt!« jammerte der Prinz und richtete sich auf. Vorsichtig tastete er nach seiner Krone. Sie war das einzige, was von seiner königlichen Pracht geblieben war.

»Mein Geld, mein Mantel! Man hat mir den Mantel vom Leib gestohlen!«

Sir Hiss schlängelte sich aus den Trüm­ mern seines Körbchens hervor und zischte:

»Ich wusste gleich, dass das ein Gaunerstück war. Aber Ihr wolltet ja nicht hören, musstet meinen Rat ja in den Wind schlagen … «

Drohend hob Prinz John den Handspiegel, der neben ihn in den Straßenmatsch gefallen war.

»Stopp, Hoheit!« schrie die Schlange. »Das bedeutet sieben Jahre … «

Aber da sauste der Spiegel schon auf ihren Kopf nieder und zersprang in tausend Stücke. Sir Hiss, der gewohnt war, Püffe und blaue Flecken von seinem Herrn verpasst zu be­kommen, wand sich vorsichtig aus den Scher­ben. »Sieben Jahre Unglück!« zischte er.

In diesem Moment ertönte aus dem Ge­büsch, gar nicht weit von ihnen, ein spöt­tisches Liedchen:

Robin Hood und Little John rennen um ihr Leben,
springen über Zäune ohne Müh' und Plag, 
denken beide nur an ihre Flucht,
und schließlich schaffen sie's, 
oo - de - lally, oo - de - lally! Kinder, welch ein Tag!
oo - de - lally, oo - de - lally! Kinder, welch ein Tag!

Der Prinz schaute seinen Ratgeber verdat­tert an. »Robin Hood?« fragte er.

»Die kleine Wahrsagerin!« erläuterte Sir Hiss. »Die dicke wird Little John gewesen sein.

Da begann Seine Königliche Hoheit, Prinz John von England, mächtig zu heulen. Und als er sich ausgeflennt hatte, steckte er den Daumen in den Mund und nuckelte wie ein Säugling.


Video zum 1.Kapitel: 11:38 min.